Rezension, erschienen im Zentralblatt der Didaktik der Mathematik 26 (Oktober 1994), 143-146

Koepf, W.; Ben-Israel, A.; Gilbert, R.:
Mathematik mit Derive
Wiesbaden/Braunschweig: Vieweg, 1993. XIV + 394 S.
ISBN 3 528 06549 4

Leo H. Klingen, Bonn

Als vor 25 Jahren die ersten Tischcomputer die Schulen eroberten, war es eine Binsenwahrheit, daß man zwar die üblichen numerischen Verfahren der Analysis unterstützen konnte, aber keine einzige Allaussage über Stetigkeit, Differenzierbarkeit oder Integrierbarkeit: allenfalls Beispiele mit konkreten Zahlenfolgen konnten ersatzweise Plausibilitätsbetrachtungen liefern, der Kern reiner Analysis blieb für den Computer verschlossen.

Die Entwicklung von Software mit symbolischer Verarbeitung mathematischer Terme hat diesen Zustand gründlich verändert. Rechenzentren an Universitäten können zwischen einem Dutzend verschiedener Systeme wählen, Schulcomputer und private Lehrer- und Schülercomputer zumindest Derive anwenden, in manchen Fällen neuerdings auch Maple, Mathematica oder Reduce. Dabei kommt Derive mit einer einzigen 360-k-Diskette aus, arbeitet in einem Verbund von symbolischer Verarbeitung, numerischen Verfahren und graphischer Darstellung mit den Kern einer Langzahl-Darstellung mit rasch erlernbarer Menutechnik und einer Fülle von Algorithmen, die weit über das Schulniveau hinausreichen.

Bisher ist die einschlägige Schulbuchliteratur nicht in derselben Weise mitgewachsen. Einige amerikanische Bücher kommen für die gymnasiale Oberstufe aus curricularen Gründen nur recht begrenzt in Frage, deutschsprachige Bücher beginnen erst zu erscheinen. Nun wird mit "Mathematik mit Derive" ein Buch auf den Markt gebracht, das - pars pro totum - ein wichtiges Teilgebiet der Mathematik, die Analysisvorlesung des ersten Semesters eines Mathematikstudiums, in enger Verbindung mit der Nutzung von Derive aufarbeitet. Als Adressaten nennt die Verlagsinformation ebenso wie das Vorwort des Buches Lehrer und Dozenten der Mathematik, Studenten der Mathematik an Universitäten und Fachhochschulen und - ein wenig differenziert - Schüler der gymnasialen Oberstufe (Verlagsinformation), bzw. "besonders interessierte Schülerinnen und Schüler", die "mit Hilfe von Derive auch ein wenig Luft in der (noch) höheren Mathematik schnuppern" (Buchinformation) können. Aus Sicht des Rezensenten stellt das Buch mit dem umfangreichen begleitenden Übungsapparat eine ideale Wiederauffrischung der klassischen Anfängervorlesung für jeden Gymnasiallehrer dar, für den sie zu Beginn seines Studiums zum Pflichtpensum gehörte. Das wird übrigens umso mehr für den Fortsetzungsband (Analysis mit mehreren Variablen, also Analysis II) gelten, dessen Erscheinen unmittelbar bevorsteht. Die meisten Übungen lassen sich mit Derive erledigen - und natürlich auch ohne dieses Hilfsmittel, so daß eine gute Selbstkontrolle gegeben ist; außerdem wird man über die Reduzierung des Rechenaufwandes in vielen Fällen nicht unglücklich sein, insbesondere beim Arbeiten mit mehreren Variablen. Im Vorwort des vorliegenden Bandes vergessen die Autoren nicht den Hinweis, die Ergebnisse symbolischer Verarbeitung einer sorgfältigen Nachprüfung zu unterziehen und ihnen nicht blind zu vertrauen.

Ob nun Buch und symbolisches Programm zum Standard-Hilfsmittel des Hochschuldozenten und seiner Studenten werden, muß allerdings bezweifelt werden. Denn die Mehrzahl der Professoren der reinen Mathematik ist mit der Nutzung eines Computers, der Handhabung seines Betriebssystems und der Praxis einer symbolischen Verarbeitung kaum vertraut, mehr noch, hält das für überflüssig und u.U. sogar schädlich. Man fürchtet, selber die Fertigkeit in den elementaren Techniken zu verlieren und umgekehrt, Techniken der Menu-Handhabung eines Computers nie zu lernen! Ob es dem hervorragend geschriebenen Buch gelingt, hier irrationale Schwellen abzubauen, muß abgewartet werden. Es wird dann geschehen können, wenn deutlich wird, daß die Richtung von Umformungen aller Art (etwa hinsichtlich einer Termvereinfachung) immer menschliches Privileg bleibt und nicht einer sogenannten künstlichen Intelligenz anvertraut werden kann. Zu wenig ist bekannt, daß solche Programme nicht die mechanische Handhabung, sondern vielmehr ihre intelligente Nutzung verlangen. Glücklicherweise ist dieselbe Hürde bei Anwendern wie Ingenieuren und Naturwissenschaftlern nicht zu erwarten; das Buch allerdings macht hier keine Kompromisse: sein Inhalt liegt millimetergenau auf dem kanonischen Inhalt der klassischen Analysis-I-Vorlesung für Mathematiker.

Die herkömmliche Literatur zur Analysisvorlesung kann man in zwei Gruppen gliedern; als Repräsentanten mögen zwei alte Bekannte dienen: das Buch von R. Courant Bd. I und geeignete Auszüge aus dem Werk von v. Mangoldt-Knopp Bd. I-III. Während im ersten auf meisterhafte Weise auch der intuitive Hintergrund vermittelt wird, müht sich das zweite um Erziehung zu mathematischer Strenge durch aufwendige Formulierung der Sätze mit genauen Restriktionen und Liebe zum Detail. Neuere Werke mögen Mischformen darstellen, bei denen aber immer eine der beiden Varianten überwiegt. Nun kommt mit dem vorliegenden Band von Koepf u. a. eine dritte Variante hinzu: durch eine straffe, aber trotzdem gut lesbare Darstellung wird der Platz gewonnen, zahlreiche Derive-Mustersitzungen und über 450 (!) Übungsaufgaben (überwiegend mit Derive lösbar) sowie einen Anhang mit einer Einführung in Derive unterzubringen, ohne daß eine große Linie des Zusammenhangs gestört wird (wozu auch der gelungene Satz des Hauptautors Koepf beiträgt).

Die Unterstützung durch Derive sei an einem Beispiel erläutert. Nach allgemeinem usus gehört das Thema "vollständige Induktion" in die Anfängervorlesung, weil die Schule es zwar i. a. behandelt, oft jedoch noch das Verständnis für die verwendete Logik und ihre axiomatische Grundlegung fehlt. Analytisch geschlossene Terme für Summen und Produkte stellen Paradebeispiele für den Anfänger dar. Wir betrachten etwa die Summe der Quadratzahlen von 1 bis n. Der Beweis durch vollständige Induktion braucht die Kenntnis der Ergebnisformel als sogenannte Induktionsvoraussetzung. Man kann sie durch den einen oder anderen nicht unbedingt naheliegenden Trick auf direkte Weise herleiten, was aber den Beweis durch vollständige Induktion eher demotiviert; so "fällt sie oftmals vom Himmel". Die symbolische Verarbeitung von Derive kann diese Formel ebenso wie hunderte andere mit Summen oder Produkten durch ein einfaches "Simplify"-Kommando angeben (1. Hilfe). Die sogenannte Induktionsverankerung für ein konkretes numerisches n stellt natürlich für den Computer kein Problem dar und ist besonders elegant durch ein "Substitute"-Kommando vollziehbar (2. Hilfe). Die entscheidende 3. Hilfe aber wird nun im letzten Schritt des Beweises sichtbar, dem Schritt von n auf n+1: Der Anwender wird diesen Schritt richtig anzusetzen haben; daß dann eine algebraische Identität für alle n vorliegt, weist die algebraische symbolische Verarbeitung sofort nach, und der Beweis ist abgeschlossen. Natürlich darf man die Erwartungen nicht überziehen; Ungleichungen (wie die von Bernoulli oder wie 2n > n2 für alle n >= 5) kann man mit dieser Unterstützung nicht durch vollständige Induktion beweisen, was letzten Endes daran liegt, daß Abschätzungen "offener" sind als Äquivalenzumformungen von Gleichungen. Ebenso werden etwa geometrische Beweise durch vollständige Induktion kaum Unterstützung finden können.

Die vollständige Induktion findet sich im einleitenden Kapitel "Mengen und Zahlen", dem noch die Kapitel "Der Euklidische Raum" und "Funktionen und Graphen" als Einführung folgen. Dabei wird auch auf die einschlägigen Situationen im Komplexen eingegangen. Der Kenner sieht, daß gerade die beiden ersten Kapitel wenig Auslauf für Computeralgebra bieten. Außer der schon erwähnten vollständigen Induktion (einschließlich der bekannten Beispiele mit Binomialkoeffizienten) wird Derive im Zahlenkapitel benutzt, um irrationale Zahlen mit hoher Stellenzahl darzustellen und die Grundrechenarten im Körper der komplexen Zahlen zu exerzieren. Das Funktionenkapitel bietet schon mehr Möglichkeiten für Derive: graphische Darstellung der Funktionen (wobei implizite Funktionen in Derive explizit dargestellt werden müssen, im Gegensatz etwa zu Maple V, Release 2) mit Gewöhnung des Anwenders an die Optionen des 2-D-Plotfensters, Polynom-Interpolation mithilfe eines selbstprogrammierten (hier vorgegebenen) Lagrangeterms, Faktorisierung von Polynomen, Partialbruchzerlegung von rationalen Funktionen. Hier ist auch für Anwender, die bereits mit Derive vertraut sind, durchaus lehrreich, wie in der Reihenfolge der Kommandos "Simplify", "Expand", "Factor" vorgegangen werden muß, einschließlich der Optionen, die sich im Untermenu von "Factor" befinden. Zweierlei wird deutlich: zum einen hängt es vom gewünschten Ziel ab, das man erreichen will, welche Reihenfolge man handhabt: dieses Ziel muß sich menschliche Intelligenz stecken und das Programm zweckgerichtet handhaben. Zum andern zeigen schon die Anfangskapitel, daß die Autoren keinen Kompromiß zuungunsten der Mathematik eingegangen sind, indem sie vorzugsweise das bringen, was sich durch Tastendruck schnell erledigen läßt; die Analysis muß an keiner Stelle durch das neue Hilfsmittel Einbuße erleiden.

Das 4. Kapitel "Folgen, Konvergenz und Grenzwerte" tritt in die engere Analysis ein. Obwohl Derive viele Grenzwerte in Sekundenschnelle berechnen kann, wird auch zur manuellen Berechnung ermuntert. (Nach Angaben der Autoren im Vorwort setzen sie selber im Hochschulunterricht Derive in 20% des Übungsbetriebes ein). Im Unterschied zur numerischen Berechnung kann es bei der symbolischen Berechnung keine Subtraktionskatastrophen geben, was für die numerische Berechnung von e mit Derive vorgeführt wird. Für Reihen wird das Quotientenkriterium in Derive programmiert, das klassische Paradoxon von Achill und der Schildkröte, die harmonische Reihe und der Satz von Bolzano-Weierstraß finden ihren gebührenden Platz wie in nicht computergestützten Lehrbüchern. Die Übungsaufgaben enden hier mit der Forderung nach Programmierung von rekursiven Funktionen wie Fibonacci, Binomialkoeffizient, Fakultät.

Zum Inhalt des nächsten Kapitels "Die elementaren transzendenten Funktionen" gehören nicht nur die üblichen Exponentialfunktionen und Winkelfunktionen, sondern auch die Exponentialfunktion im Komplexen und die hyperbolischen Funktionen. Natürlich geben die Transformationen für trigonometrische Funktionen ausgiebigen Anlaß zur Diskussion, in welche Richtung transformiert werden soll, was in Derive über Untermenus geregelt werden kann. Die Additionstheoreme, allgemeiner die Funktionalgleichungen der Funktionen werden in den Zusammenhang des Cauchy-Produktes gebracht. Insgesamt fällt auf, daß von den Visualisierungsmöglichkeiten, welche Derive liefert, nur sparsamer Gebrauch gemacht wird; wenn es geschieht (das gilt für das gesamte Buch) wird aus ästhetischen Gründen des Druckbildes und seiner Auflösung auf die Hilfsmittel von Mathematica zurückgegriffen, obwohl Derive nach Meinung des Rezensenten nur unwesentlich mindere graphische Qualität geboten hätte. Leser, die schon in der Schule die Graphik von Derive als zweites Standbein dieser Software kennengelernt haben, werden beim Lesen sicherlich viel häufiger von dieser Visualisierung Gebrauch machen, als es explizit im Buch geschieht - aber vielleicht haben die Autoren dieses Verhalten geradezu gewünscht und durch die erwähnte Sparsamkeit auch erzwungen.

Mit dem anschließenden 6. Kapitel "Stetige Funktionen" schließt zunächst ein erster Teil der Differentialrechnung, Bekannte "pathologische" Funktionen werden zur Erläuterung der Begriffe Stetigkeit und gleichmäßige Stetigkeit benützt. Der Zwischenwertsatz gibt Anlaß zum Programmieren einer Bisektionsprozedur, die Umkehrungen der trigonometrischen und hyperbolischen Funktionen bringen nicht alltägliche Transformationen. Wichtig ist der Hinweis, daß Derive alle Funktionen wie stetige Funktionen behandelt. Das Übungsmaterial nutzt die Fähigkeit von Derive, Grenzwerte zu bilden, weidlich aus. In den Übungsaufgaben findet man durchaus Originelles, gegen Ende des Kapitels z. B. eine stetige Argumentfunktion für nichtnegative und von Null verschiedene komplexe Zahlen. U. a. werden die ersten 10 Tschebischeff-Polynome mit Derive berechnet.

Die beiden nächsten Kapitel behandeln Begriffsbildung und grundlegende Sätze der Integration und die numerische Integration. Das gibt Anlaß zur Programmierung von Riemann-Summen und einer Simpson-Prozedur sowie Übung an zahlreichen Beispielen. Im Anschluß daran wird wieder die Differentiation aufgegriffen. Nach der sorgfältigen Definition der Ableitung einer Funktion und Vermittlung der zugehörigen Anschauung werden Regeln wie Produkt- und Quotientenregel natürlich in klassischer Weise hergeleitet, auch wenn Derive für allgemeine Funktionen f(x) und g(x) das Ergebnis unmittelbar liefert: das beweist, daß es den Autoren um die Vermittlung des Verständnisses des Studenten ging und nicht um eine Paradevorführung des Leistungsumfanges von Derive! Der letztere wird sichtbar, wenn die Rechenzeit für eine 100. Ableitung der sin-Funktion oder (für den Menschen nicht so simpel) die 20. Ableitung der tan-Funktion bestimmt wird! Richtig wird die Kettenregel in das Zentrum gestellt, aus der die anderen Regeln folgen, Ableitung von Umkehrfunktionen und implizite Differentiation schließen sich an. Schließlich bringt das Kapitel "Globale Eigenschaften differenzierbarer Funktionen" die zentralen Inhalte des Mittelwertsatzes und des Satzes von Rolle, immer mit begleitender Derive-Programmierung. Ergänzt wird durch das Newton-Verfahren (das man an dieser Stelle nicht unbedingt vermutet hätte) und einen kurzen Ausblick auf Chaos in der Analysis im Zusammenhang mit der Newton-Iteration als naheliegendes Zugeständnis an die moderne Diskussion.

Das folgende Kapitel "Integrationstechniken" bietet naturgemäß breite Anwendung von Derive, prüfen doch viele, die ein für sie neues Computeralgebra-Programm erhalten, an erster Stelle hier seine Fähigkeiten. Das Buch nutzt das Instrument bis zur partiellen Integration, Volum- und Oberflächenintegralen, auch wenn erst neuere Versionen von Derive hier glänzen können. Uneigentliche Integrale führen zur Gamma-Funktion, zu Laplace-Transformationen (allerdings ohne Angabe ihrer Bedeutung) und zu unbeschränkten geometrischen Körpern.

Das letzte reguläre Kapitel vereint etwas gedrängt die Themen "gleichmäßige Konvergenz", "Potenzreihen", "Taylorentwicklung" und "Lagrange-Interpolation". Außer der Abbildung der Takagi-Funktion als überall stetiger und nirgends differenzierbarer Funkton reichte offenbar der Platz nicht mehr zur Abbildung von Taylor-Entwicklungen. Dadurch bleibt noch die Möglichkeit, auf ca. einem Dutzend Seiten einen Anhang über die Benutzung von Derive zu veröffentlichen, der wesentliche Teile des (über 200 Seiten starken) Benutzerhandbuches in gut verständlicher Weise zusammenfaßt. Mit einem Literaturverzeichnis, das auch Referenzen zur Theorie der Computeralgebra enthält, und anderen notwendigen Apparaten endet das Buch.

Als Verdienst sei noch erwähnt, daß in Fußnoten die Lebensdaten aller vorkommenden Mathematiker genannt werden und - durchaus unüblich, aber recht nützlich - die englischen Übersetzungen aller Fachausdrücke. Daß noch zusätzlich versichert wird, das Symbol a bedeute den griechischen Buchstaben Alpha (usw. für ein Dutzend weitere geläufige griechische Buchstaben), läßt schmunzelnd fragen, an welchen Adressaten im deutschsprachigen europäischen Raum die Autoren eigentlich gedacht haben! Recht brauchbar ist auch eine angebotene Diskette mit allen Mustersitzungen und kurzkommentierten Lösungen aller Derive-Übungsaufgaben.

Eine Gesamtwürdigung des Buches darf zunächst ein Gedankenexperiment durchführen: wenn man alle Derive-bezogenen Teile streicht, stellt der Torso immer noch ein brauchbares, straff organisiertes und lesbares Kompendium für die Anfängervorlesung dar. Wenn man aber diese Teile wieder hinzufügt, resultiert eine Studienhilfe, die ihresgleichen sucht! (Der Rezensent mußte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg in Göttingen wegen des Ansturms vieler Jahrgänge nicht nur eine Aufnahmeprüfung vor dem ersten Semester, sondern auch ein Fortsetzungsexamen nach dem ersten Semester ablegen. Nach Durcharbeiten dieses Buches mit allen Übungen würde er nach fast 50 Jahren auf der Stelle wieder antreten.) Den Autoren kam es offenbar darauf an, die Eignung eines Computeralgebra-Programms (übliche, aber unzureichende Kennzeichnung von Derive) für die Analysis-I-Vorlesung zu zeigen. Das ist für die symbolische Verarbeitung ganz ausgezeichnet gelungen. M. E. ließe sich etwa für ein Fernstudium keine bessere Lektüre finden, die zugleich eine hochwirksame Selbstkontrolle ausübt. Angesichts der außerordentlichen Mühe, welche für Quantum und Quale (u. a. die originellen Sternaufgaben) des Übungsapparates von den Autoren aufgebracht werden mußte, wäre es ganz unbillig, Zusatzwünsche zu äußern. Ein naheliegender und wichtiger Wunsch ist schon erfüllt: die Inhalte einer Analysis-II-Vorlesung sollen von W. Koepf in aller Kürze im selben Verlag erscheinen. Sie richten sich an den gleichen Adressatenkreis, vornehmlich Studenten im sogenannten Grundstudium und damit an Anwender, die besser zum Angebotsspektrum von Derive passen als die meisten Schüler. (Im österreichischen Userclub machte ein deutscher Realschullehrer allen Ernstes den Vorschlag, Menuteile wie Calculus zu verriegeln, damit Schüler nicht die "Kompetenz" von Lehrern testen können!)

Um den oben genannten Beweis für die Eignung von Derive antreten zu können, blieb den Autoren offenbar gar nichts anderes übrig, als die kanonischen Inhalte der Anfänger-Vorlesung unverändert aufzunehmen. Angesichts der raschen Verbreitung symbolischer Verarbeitung erscheinen in 10 Jahren weitergehende Wünsche realisierbar, insbesonders wenn zwischenzeitlich Veröffentlichungen in Zeitschriften Pionierarbeit leisten:

  • ein "Exploring Mathematics" in Analysis mit offenen Exkursen in viele Richtungen (Differentialgleichungen, konforme Abbildung, Chaos-Mathematik, usw. usw.), die Experimente, vielleicht Irrwege und Dialoge darüber einschließen
  • ein "Recreating by Mathematics" in Analysis mit zahlreichen Abbildungen nie gesehener Situationen etwa von Graphen verketteter Funktionen, Iterationen usw.
  • eine neue und vielseitige Anwendungsorientierung, die erkennt, daß bisheriger Schulstubenmathematik durch den Rechenaufwand (zu) enge Grenzen gesteckt waren, wenn sie traditionelle Anwendungsaufgaben "einkleidete", also ein neues "Applying Mathematics"

    Wenn wir vom Zukunftsausblick wieder zur Gegenwart zurückkehren, kann man abschließend die Autoren für ihren mutigen und engagierten Vorstoß nur beglückwünschen. Der Rezensent ist sicher, daß der reinen Mathematik wesentlich geholfen wird, wenn der Lernende sich auf ihre Konzepte statt auf ihre Rechnungen konzentrieren kann. Freilich ist nicht auszuschließen, daß die reinste Mathematik diese Hilfe gar nicht merkt: unwillkürlich denkt man an das englische Wortspiel pure mathematics/poor mathematics ... Hoffen wir, daß die reine Mathematik über ihren Schatten springt! Hätte man Buch und Derive zur Studienzeit bereits gehabt, wieviel weiterführende Fragen hätten sich erschlossen – übrigens (notabene!) Fragen ganz überwiegend an die reine Mathematik.

    Nachtrag: Mittlerweile ist der Folgeband zur Analysis II erschienen. Die neue Version 3.0 von Derive plottet auch implizite Funktionen nach einem schnellen Algorithmus.